StartseiteZeitreisen"Zurück zur Stunde Null"Redaktionelles

Die Leere im Kopf

Drei Uhr nachts. Winterdunkelheit. Im Zimmer ein Stuhl, ein Tisch, eine Schreibmaschine, vier Aktenordner mit Interviewabschriften, Bücherstapel, Dokumentenbündel. Die anderen Räume der Wohnung leer. Mein Kopf auch: Und das ist die Katastrophe, denn morgen früh ist der Artikel fällig. Aufschub? Unmöglich: der Text zum 40. Geburtstag des Grundgesetzes erscheint am 17. Mai 1989 in Heft 11 der Brigitte. Oder gar nicht. Ein Heft später ist zu spät: Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft, dem ich – unter anderem – diesen Auftrag verdanke.
Eine Traum-Reportage: „Was fühlten, dachten, wünschten Frauen am 23. Mai 1949?“. Zu Bedingungen, von denen man 2009 nur träumt: Zwei Monate Zeit, elf Heftseiten zu füllen. Eine Zeitreise in die Vergangenheit. Das Lebensgefühl von Frauen ’49 spürbar machen.

Ich stürzte mich in die Recherche, sammelte Interviews und Details: Wie viel kostete Briefporto, ein Ei, eine Dauerwelle? Welche Wörter lagen „im Trend“, was lief im Radio? Wurde noch über Hitler, über Auschwitz gesprochen? Oder herrschte Schweigen, wurde mit Macht verdrängt? Wie lebte es sich im besetzten Land, wie kam die West-Berlinerin mit den Folgen der Sowjet-Blockade zurecht? Beim Streit mit Schlussredakteur Heinz Luckow merkte ich, dass aus akribischer Recherche Obsession wurde: Die Brigitte und der Duden schrieben „Telefon“ mit „f“. Ich bestand auf „Telephon“ - 1949 hatte man das so geschrieben. Basta. Wer sich durchsetzte? Na, lesen Sie den Text.

Doch der stand noch auf der Kippe, um 3 Uhr früh in der leeren Wohnung mit dem Berg Recherchematerial. ‚Das schaffst du nie. Hast dich überschätzt. Eine Nummer zu groß für dich.‘ Dass selbst altgediente Edelfedern immer wieder mit Selbstzweifeln kämpfen, hatte mir Günter Dahl, Stern-Reporter der ersten Stunde, guter Freund und Berater, vor langem erzählt. Es half mir nicht. Was half, weiß ich nicht. Doch plötzlich war alles da: acht Handlungsstränge, hunderte Details fügten sich zu einer Geschichte. Ich blickte auf, es war hell: Wo war ich? War es morgens, nachmittags? Ich wußte es nicht. Ich war glücklich. Die Geschichte war fertig. Diesen Zustand des vollkommenen Eintauchens beschrieb der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi später in seinem Buch „Flow. Das Geheimnis des Glücks“.

Auch für Photograph Gerd van Rijn war es etwas Besonderes, die Photostrecke zum Text im Ruhrlandmuseum in Essen zu inszenieren: mit zwei Schauspielern arrangierte er zwischen Möbeln mit abgeblätterter Farbe, Spielzeug, Waschbrettern der späten 40er Jahre Bilder von faszinierender Intensität. Die Gesichter der jungen Schauspieler vor diesen Kulissen ließen die Kriegsmüdigkeit der vorigen Generation spüren. Aber Nora, die achtjährige Tochter des Photographen, tupfte Akzente von Hoffnung und Fröhlichkeit in die Bilder. Für sie war es „eine großartige Erfahrung“, sagt sie heute.

Mitten hinein ins Bild plazierte Gerd van Rijn die Autorin –als Zeitreisende aus der Zukunft- mit Leica, Lederjacke, Jeans und blauer Friedenstaube auf den Cowboystiefeln.


Kein Wunder, daß Gerd van Rijn so ein feines Gespür für 1949 hat - wurde er doch im selben Jahr geboren wie die Bundesrepublik Deutschland. Guter Jahrgang.


Recherche: Ute B. Fröhlich, Lothar Fröhling, Margret Meyer

01.09.2015 17:42


Druckbare Version