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Im Dienste der Hausfrau

"Was wir brauchen", sagt Helene, stopft sich das Brot unter den Arm und packt die Tüte fester, "das holen wir uns." Und ab mit dem Fang. Vornübergebeugt, die Nase in den Wind, weiße Dauerlöckchen unter entschlossenem Kopftuch. Ach, Helene, ich liebe dich, du könntest meine Oma sein, damals in den 50ern, komplett mit Blümchenbluse, graumelierter Strickjacke und heftig karierter Kittelschürze. Die Hausschuhe nicht zu vergessen, die Schlappen, hinten offen. Überall Schlappen, man zieht sie an, wenn man das Haus verläßt, und vor der Tür müssen sie stehenbleiben.
   
Helene hat das Haus verlassen, an diesem kalten Spätherbstmorgen kurz nach acht, um schnell mal einzukaufen bei einem der rollenden Läden, die durch Mecklenburg fahren. Dort, wo die Versorgung auf den Dörfern nicht mehr sichergestellt ist, seit die Mehrzahl der kleinen HO- und Konsumläden -einige zehntausend- dichtgemacht hat. Also fast überall in den ländlichen Gebieten der neuen Bundesländer.

Wie kommt Helene zurecht mit diesen Veränderungen? Da guckt sie mich an wie eine vom Mond - oder aus 'm Westen: "Ach, wissen Sie, ich bin durch alles durchgekommen. 34 Jahre ist das her, daß mir mein Mann gestorben ist. Da waren die Kinder noch klein: fünf, sieben und elf. Und nu' ist die Älteste 45."

Helene ist 73, und sie weiß, was läuft: "Dauernd kommen hier Busse. Dieser am Montag, Mittwoch, Freitag. Am Dienstag und Donnerstag kommt einer aus Passow, Mittwoch und Sonnabend einer aus Botelsdorf. Und dann noch ein Fleischwagen." Wenn das nicht reicht, fährt man mit dem Autobus nach Gadebusch, zwölf Kilometer von Veelböken, wo Helene wohnt. Oder sogar mal 50 Kilometer nach Schwerin. "Siehst", sagt sie und zeigt auf drei weitere verdiente Trägerinnen der Kittelschürze, die vor ihren Häusern in die Schlappen schluppen und, Einkaufskorb überm Arm, auf unseren Bus zueilen, "siehst, da kommen noch mehr. Was wir brauchen, holen wir uns." Helene kommt auch ohne Konsum klar.
 
"Im Dienste der Hausfrau" sind wir unterwegs. Das jedenfalls behauptet der zehn Meter lange Lebensmittelbus vertrauenheischend vorne, hinten und an beiden Seiten. Um Vertrauen muß sich jeder der "rollenden Dienste", so der Fachbegriff, wirklich bemühen. Das Mißtrauen sei groß, erzählt Hans Schwermer, dem dieser und drei weitere Busse gehören. "Manche fahren unseriös herum, bieten überteuerte Ware an, nicht ausgezeichnet, lange über das Verfallsdatum hinaus." Schwermer ist Mecklenburger, er kennt die Leute hier. "Die dummen Ossis", sagt er mit Ossitrotz und Ossistolz zur Westjournalistin, "die haben schnell gelernt, daß sie für ihr bißchen Geld auch Höchstansprüche stellen können. Ist ja richtig."    
"Lalalalabamba", jubelt NDR 2 aus dem Fleischerwagen in die kalte Frühe. "I got you, babe" antworten Sony und Cher aus dem ersten Lebensmittelbus. Wer sich nicht bewegt, kriegt die Grippe. Bis zu 15 Leute wuseln umher. "Nicht alles meine Angestellten", erklärt Schwermer, "da sind auch Familienangehörige bei, Vorruheständler, die sich hier die Langeweile vertreiben." Ein Vater, der gern mitfährt, eine Mutter, die aufräumt, während sich ihr Sohn noch mal im Bett rumdreht. Von fünf bis halb acht wird beladen, Zeitungen aus Lübeck, Milch aus Schwerin, Fisch aus Rügen, Brot von Bäckern aus Mecklenburg und Schleswig-Holstein, Fleisch und Blumen aus der Umgebung. Schwermer hat sich vor zwei Jahren mit einem Bus an die alte Schleswig-Holsteiner Firma Kropp angeschlossen und in diesem Sommer selbständig gemacht. Er legt Wert auf "hiesige Produkte, auch wenn es schwierig ist." Etwas geniert erklärt er: "Beim Mineralwasser zum Beispiel wollen sie alle ihren alten Fürst Bismarck wiederhaben."  
Schäfchenwolken am Himmel, und die letzten Hähne krähen. Das wird ein schöner Tag. "You always take the weather with you..." Auch Fahrer Hein von Harry Brot hört NDR 2. Seit drei Uhr ist er auf den Beinen, vor 50 Minuten aus Lübeck weggefahren. 7.35 Uhr, die Wagen sind gepackt, gleich wird gemeinsam gefrühstückt. Vorher zeigt Hans Schwermer seinen Besitz, mitten auf dem platten Land, in Frauenmark, wo sonst fast nichts ist, ein paar Häuser nur, weniger als 100 Einwohner, eine aufgelöste LPG, eine Allee. Was heute sein Lager ist mit 2200 Artikeln, war früher Konsum und Dorfgemeinschaftshaus. Die Belastung ist hoch: 700.000 Mark für Wagen, Gebäude, Produkte. Wenn es nach den Banken ginge, so Schwermer, müßte er 35 sein. Hans Schwermer ist 52, und was er hier macht, nennt er ein Wildwestunternehmen. Noch einmal den Mut zusammennehmen. Noch einmal den Sprung wagen.    
Zehn Jahre war Hans Schwermer Leiter einer Obstbau-LPG bei Dresden. "Eine blühende Super-LPG", sagt er, und dann stellt die Erinnerung seinen Gefühlen ein Bein. Kurz wird sichtbar, wieviel Kraft es ihn kostet, nicht zurückzuschauen. Trost kann es da nicht geben. "Die Zeit der Gefühle ist vorbei, die kann ich mir nicht leisten", sagt er, nach einer Weile, als seine Stimme wieder so klingt, wie er will. "Das will doch heute keiner mehr wissen. Höchstens, daß sich Geschäftspartner mal hintenrum erkundigen, ob man bei der Stasi war."    
Alle trinken Kaffee. Pech: wieder kein Tee für Hans Schwermer. Lockere Stimmung, man albert sich wach und warm. Junge Leute, patent und unkompliziert, so schildert Hans Schwermer seine drei Fahrer und die Fahrerin, seine Filialleiter, wie er sagt. Zwölf Stunden sind sie unterwegs, bis zu 140 Kilometer, nach Wismar, Schwerin, Ratzeburg, von Dorf zu Dorf, manchmal sogar von Tür zu Tür. Schwermer: "Mit Kuh, Schwein und ihren Traktoren haben die geredet auf der LPG. Nun sollen sie mit Kunden umgehen." Roland, 35: "'Ne unheimliche Umstellung." Harald, 28: "Aber es macht mehr Spaß als mit der alten Technik. Am Wochenende hat man frei, das gibt´s in der Landwirtschaft nicht." Harald, Heidrun, Roland und auch Ralf, mit dem Photographin Gundula Nitschke und ich einen Tag lang unterwegs sind, haben Kinder, ihr Mann, ihre Frauen haben Arbeit. Das klingt gut.    
Rein in den Wald, raus aus 'm Wald. Vorbei an Dorfteichen, Kuhweiden, über holprige Pflasterstraßen, rutschigen Blaubasalt. Immer wieder hupen und anhalten. Dreimal, fünfmal, in manchen Dörfern zehnmal. Und wenn irgendwo eine Tasche am Zaun hängt, als Signal, oder ein Kasten Selter steht, Fürst Bismarck vielleicht, dann noch mal extra. Immer wieder Männer mit Prinz-Heinrich-Mützen, ab und zu ein dralles Mädchen im pink Jogginganzug und viele kleine Jungs auf der Suche nach Schokolade.
Verfallene Holzschober und schöne Lindenalleen. "Deutschland, einig Vaterland", die einzige Parole, auf ein Haus gesprayt. Im Nachbargarten alldeutsche Gartenzwerge. Immer wieder Katzen. Und immer wieder Satellitenantennen. "Ja", sagt Ralf Biegelski, "kein Brot aufm Tisch, aber Satellitenantenne aufm Dach." Dann hält er vor einem Tor, springt aus dem Wagen, öffnet das Tor, springt hinters Steuer, fährt in die Einfahrt, springt aus dem Wagen, schließt das Tor, und dann geht es los: Vierter Stop, wir sind am Pflegeheim, und die Kasse dampft. Weiter: Er springt aus dem Wagen, öffnet die Pforte...
Zehnter Halt.
"Tachschön."
"Gudntachschön. Heute waren wa zur Zuckerkontrolle! Et wa jut heute! Denn nehm´ ik ma´ sswei solche."
"Mokka?"
"Jaja und Vollmilch."
Lust auf Süßes haben fast alle. Wenn nicht für sich, dann für die Enkel. Wenn nicht für die Enkel, dann für den Hund. Purzel zum Beispiel, acht Jahre, von Beruf bissiger Spitz und Lebensgefährte, Purzel kriegt nur gute Sachen, Vollmilchschokolade zum Beispiel. Purzels Besitzerin ist bescheidener: "Eine Wrugge" soll es heute sein, eine Kohlrübe "zum Zusammenkochen". Die trägt Ralf Biegelski ihr ins Haus, zusammen mit Schokolade für Purzel und Schnaps für Verwandte und Bekannte. Daß sie den nicht selber trinkt, weiß Ralf Biegelski ganz genau. Er weiß auch, wer krank ist und wer Sellerie mag, wo es Zoff mit Skins gibt und wer sich privat gemacht hat mit einem Pflegeheim, wer Silberhochzeit feiert, wo Gänse geschlachtet werden und wer alles, aber auch alles über Roy Black lesen will.
 
Kaum jemand bleibt länger als fünf Minuten in diesem 10-Quadratmeter-Mini-Laden mit Einkaufskorb, Kühltruhe und Ladenkasse. Trotzdem, "man erfährt so einiges", sagt Ralf Biegelski ein wenig geheimnisvoll, zündet eine Zigarette an und hüllt sich dann wieder in Rauch und Schweigen.
Ralf Biegelski muß man wissen, handelt nicht nur mit Lebensmitteln. Nicht nur mit Blumen, Nähseide und Kautabak für einen alten Herrn bei Schwerin. Nicht nur mit Pflastern, Blusen, Fleisch und Fisch auf Bestellung.
Er handelt auch mit Schicksalen.
Die liegen in einer unauffälligen Schublade neben der Kasse. Geschichten vom anderen Leben. Bergromane und Arztromane, Liebesromane und Schicksalsromane. Versonnen bleibt manche hier stehen. Dies probeweise Abschmecken fremder Schicksale dauert so seine Zeit: Soll es eher ein lange vergessenes Familiengeheimnis sein oder der Arzt zwischen Pflicht und Leidenschaft? Ein dramatisches Familienschicksal oder ein bewegender Roman um eine junge Gutsherrin?
  "... Gräfin Alexa, eine schöne junge Frau mit glattem blondem Haar, das sie wie Grace Kelly aufgesteckt hatte, ging die Freitreppe hoch. Hier leben, dachte Alexa, das ist etwas für lebensbejahende, heitere Menschen..."
Da greift Ralf dann schon mal ein, weil es sonst zu lange dauert, und er ist sowieso schon zehn Minuten hinter seinem Plan.
"Woll´n Sie die alle mitnehmen?" fragt er besorgt eine alte Frau, die hingebungsvoll in Bündeln gedruckter Leidenschaft wühlt.
"Ne, ne, ich will nur was von Fürsten und Grafen, das les' ich gern. Hier, die Fürstenkrone. Und die schöne Braut geben Sie mir man auch noch mit."
40, 50 Stück pro Woche gehen von diesen Heften weg. "Die verkaufen sich gut", bestätigt Heinz Schwermer, "vor der Wende gab´s die ja nicht." Fünf Stück, zwei Mark pro Schicksal, landen diesmal im Einkaufskorb - inklusive schöne Braut.
   
Nieselregen fällt auf den Bus, zermatscht den Sandweg zum Haus, klötert auf zerbeulte Mülltonnen, tropft von Bäumen und Sträuchern auf einen Haufen alter Matratzen, Sessel, rostiger Fahrräder - Gerümpel, was keiner mehr braucht. Riesige Augen hinter dicken Brillengläsern, ein Griff an meinen Ärmel und eine energische Stimme: "Kiek ma da, den kleenen Hund am Fenster. Dat is meiner. Die Fifi is das. Ein Mädchen. Die ham se aus 'm Auto geschmissen. Die is mir zugelaufen, da war sie so klein." Soviel Hundefutter! Alles für Fifi? Nein, Fifi sei nicht die einzige Nutznießerin: "Sieben Stück fütter ich hier draußen. Ich muß bald Rabatt kriegen. Ich mag das nicht, wenn Tiere hungern." Verdient sie so gut? "Ach wo! Ich krieg schon 14 Jahre Invalidenrente. Aber meine Söhne arbeiten ja."
Nicht von ungefähr. Beide waren arbeitslos, wie die meisten hier. "Vor einem Jahr braucht er gar nicht wiederzukommen, hieß das auf dem Arbeitsamt in Schwerin", erzählt sie, und ihre Empörung klingt noch frisch. "'So, nu is Feierabend', hab ich gesagt, 'rein in 'n Trabi!'" Hat ihren 1,90 Meter großen Sohn jeden zweiten Morgen in den Trabi gefaltet und ist mit ihm zum Arbeitsamt nach Lübeck gefahren. Bis er was hatte. Und der andere Sohn? "Der hat ´ne Umschulung gemacht. Nun ist er in Wismar, wo sie die leerstehenden Häuser trockenlegen. Und die ganzen Kohlen, die sie im Keller finden, die bringt er her. Bisher konnt' ich ja nicht heizen, aber heute war der Ofenleger da. Und nu aber!"

Kaputte Öfen, abblätternder Putz sind nicht das einzige Problem der Mieter. Das Haus war an die LPG verpachtet, nun soll es verkauft werden. Und der Besitzer - einer aus dem Osten - klagt die Mieter raus.

Geschichten von Arbeitslosigkeit gibt es viele. Auch von Hoffnungslosigkeit. Aber gegen die Trostlosigkeit gibt es Magentropfen. Magentropfen? Ralf Biegelski weiß, was gemeint ist: "Was nehmen wir denn diesmal? Nordhäuser Doppelkorn? Cognac?" - "Ich sach immer Magentropfen", strahlt uns der alte Mann an und zeigt, daß die Zeit seiner Zähne gezählt ist, "brauchen ja nicht alle hier zu wissen." Dann will er noch Feueranzünder. Feueranzünder sind heute der Renner, neben Schnaps, Zigaretten und Kinderschokolade - aber leider ausverkauft. "Was, nu, wo 's kalt wird, hast du keine Feueranzünder!" Ralf Biegelski, versöhnlich: "Schokolade noch?" - "Jo!" - "Eine?" - Gib man zwei. Aber ohne Nuß." Und dann, für alle, die 's noch nicht gemerkt haben: "Hab nämlich keine Ssähne mehr."
  Nordhäuser Doppelkorn wurde am 23.05.1991 zu 100 Prozent privatisiert. Von der westdeutschen Eckes AG in Nieder-Olm. Der Kaufpreis betrug 14 Millionen D-Mark. Eckes sagte zu, von 1991-1993 zehn Millionen, ab 1993 weitere 32 Millionen D-Mark zu investieren. Die ersten zehn Millionen sind poenalisiert, das heißt, wenn Eckes diese Zusage nicht einhält, gibt es eine Strafe, wenn das Unternehmen die zweite Investitionszusage nicht einhält, geschieht gar nichts. Von den 683 Arbeitsplätzen sollen 350 gesichert sein. Man könnte auch sagen, mindestens 337 gehen verloren.
Michelle, Tanja, Karina, Laura und Sarah leben im Schloß. So heißt das eben, auch wenn die Farbe fehlt, der Putz bröckelt und das Treppenhaus Verzweiflung ausstrahlt. In der Kindertagesstätte im Erdgeschoß, wo Michelle und die anderen Vier- bis Fünfjährigen auf das Mittagessen warten, ist es wenigstens warm. Früher war es sicher einmal schön, man konnte im offenen Vierspänner vorfahren, einmal rund um die prächtige Tanne vor dem Eingang. Vielleicht kommt Weihnachten noch jemand auf die Idee, eine Lichterkette in die alte Tanne zu legen. Die Kinder würden sich freuen. Das wäre dann auch der Abschied, denn der Kindergarten macht Weihnachten dicht. Vor vier Jahren waren hier 18 Kinder, heute sind es nur sieben. Die Kindergärtnerin: "Mit Nachwuchs ist nicht mehr so. Die Frauen kriegen kaum noch Kinder."   "... An das Schlafgemach der Generalin schloß sich ihr Rokoko-Boudoir an; es folgten das Barock-Arbeitszimmer, ein Empire-Speisesaal, das chinesische Teezimmer, der Musik- und schließlich der Empfangssalon. Vom Empfangssalon aus gelangte man durch eine Tapetentür in die Ahnengalerie, die zur Schloßkapelle führte..."
"Achtung, heute Stromabschaltung", informiert ein Zettel am Telegraphenmast im Nachbardorf. Das hat Rosalie noch gar nicht gemerkt, sie hatte keinen Strom an heute. 81 ist Rosalie, eine kleine Frau in Schlappen, Hosen, Kittelschürze und Kopftuch. Eben hat sie vorsichtig ihr Fünfmarkstück über den Tresen geschoben und ist wieder aus unserem Wagen geklettert. Rosalie vom Schwarzmeer. Aber das war vor langer Zeit, unter dem Zaren noch. "Und dann ist Adolf gekommen und hat uns ausgesiedelt. Hat er gesagt, macht kein´ Krieg mit dem Russ´, geht freiwillig raus, wir holen 's uns später wieder." Das letzte war geflüstert – vielleicht kommt er ja noch, es holen.
Die Wende? "Ach, wissen Sie, vor 140 Jahren sind unsere Vorfahren von hier ausgewandert zum Schwarzmeer. Und dann kam der erste Weltkrieg und der zweite." Und überhaupt, jetzt gibt es Wichtigeres: die Schlappen aus und zum Nachbarn rein: "Emil, mit meiner Tür, das geht immer noch nicht so. Kannste da mal gucken?" Und Emil kommt gucken.
   
Weiter. Vorbei an leeren Feldern, kahlen Ahornbüschen, an Straßenpocken in braun grün, weiß und blau: Recycling-Behältern. An einer Info-Tafel der Aufruf einer Bürgerinitiative gegen den Bau der Autobahn A20. Es ist bitterkalt. Im nächsten "Schloß" ein Laden mit vergitterten Fenstern und einem Schild: geöffnet Montag und Freitag 8.30-11.30, Mittwoch 8.30-13.30. Doch das ist Vergangenheit. Der Konsum hat vor einem halben Jahr zugemacht. Jetzt muß man bei den Bussen kaufen, erzählt Birgit, die hier wohnt. Aber die Busse sind teuer, sagt sie, deshalb fährt sie mit der Mutter in die Stadt zum Penny-Markt. Doch manches kostet im Bus nur einen Groschen mehr als bei Penny, manches auch nichts. Aber vielleicht möchte Birgit einfach gern in die Stadt, denn was kann man hier schon tun? "Zuhausesitzen und Fernsehen gucken." Birgit ist 25, alleinerziehende Mutter und arbeitslos. "Die meisten im Haus sind arbeitslos. Kriegen 400 Mark oder so. Wo soll man da hingehen am Wochenende? In die Disco?"
Birgits Tochter Christine ist anderthalb, blond und blaß und blickt, als hätte sie die Chancen, die das Leben ihr bietet, geprüft und verworfen. Vielleicht friert sie auch nur.
  "...Das Hochzeitsessen fand im Ahnensaal statt, und unter den Gästen befand sich eine echte Fürstin, sieben Gräfinnen und Grafen, mehrere Freiherren mit ihren Gemahlinnen und eine größere Anzahl nicht titulierter Adeliger. Eine wahrhaft vornehme Gesellschaft! ..."
16 Uhr. Alle sind zurück, aber Arbeit ist noch für zwei Stunden da: abrechnen, neubestellen, packen. Heidrun freut sich auf ihre Töchter, drei und sechs: "Morgens seh' ich sie gar nicht, da bringt mein Mann sie in den Kindergarten." Und Harald kommentiert die Schließung des Kindergartens im Schloß: "Heute schafft sich doch keiner mehr Kinder an. In DDR-Zeiten hätten wir auch schon ein zweites. Aber wie soll das gehen? Für den Lütten sind die Schuhe ja teurer als für mich."    
Schließlich gibt es noch eine Überraschung: Vor fast 25 Jahren war die Wochenpost schon mal bei Hans Schwermer. Und bei seiner Frau. Die waren 27 und 26 damals, Diplomgärtner, hatten einen Sohn, einen Boxerhund und rosarote Zukunftspläne. Inzwischen gibt es vieles nicht mehr: die DDR nicht, die Super-LPG nicht und auch die Ehe nicht. Und –mit Verlaub gesagt– aus den Blütenträumen der Obstplantage sind Träume von Flaschenlagern und Kühlräumen geworden.    
Wenige Tage später bekommt Filialleiterin Heidrun eine Nierenbeckenentzündung. Die Arbeit im zugigen Wagen bekommt ihr nicht. Das wird sich wiederholen. Für zwei Wochen fällt sie aus. Das kann sich Hans Schwermers kleines Unternehmen nicht erlauben, eine Vertretung hat er nicht. Heidrun wird den Rest ihres Vertrages in der Lagerhaltung ableisten. Dann ist sie arbeitslos.  

Die Reportage erschien in der Wochenpost 51/39, am 10.12.1992, S. 24-25.

Die Wochenpost (1953-1996) gehörte zum Berliner Verlag, der 1990 in den Besitz von Maxwell Communications und Gruner+Jahr überging. 1992 wurde G+J alleiniger Besitzer.


Photographin: Gundula Nitschke


01.09.2015 17:42


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